Wo geht’s hier bitte zur Community?
Gedanken zur aktuellen Diskussion einer vermeintlichen „Spaltung der Community“
von Matthias Ehm
In den vergangenen Wochen wurde die Entscheidung einer Stuttgarter Initiative zum IDAHOBITA 2024, eine queere Selbstvertretungsorganisation der Polizei nicht zu ihrer Veranstaltung einzuladen, skandalisiert und unter anderem als „Spaltung der Community“ geframt. Da sich mir schon länger die Frage stellt, was denn bitte schön „die“ Community eigentlich sein soll und welche Personen und Gruppierungen hierin welche Rolle spielen, sei hier der Versuch einer Klärung vorgenommen:
„Community“, bzw. Gemeinschaft wird u.a. definiert als „eine überschaubare soziale Gruppe, deren Mitglieder durch ein starkes ‚Wir-Gefühl‘ eng miteinander verbunden sind.“ Weiter ist zu lesen: „Menschliche Individuen können ‚Gemeinschaften‘ nur begrenzt bilden. Es ist ihnen praktisch nicht möglich, zu jedem Zeitpunkt in allen ihren sozialen Beziehungen gemeinsame Ziele zu verfolgen oder jegliche Handlungen gemeinschaftlich durchzuführen. (…) Der Begriff ‚Gemeinschaft‘ ist daher oft eine missbrauchte Fiktion.“
Wer ist gemeint?
Was also könnte gemeint sein, wenn von „der“ queeren Community gesprochen und geschrieben wird? Alle queeren Menschen in einem bestimmten geographischen Raum, zum Beispiel einer Stadt oder einem Bundesland? Oder nur diejenigen der queeren Menschen, die sich tatsächlich durch ein starkes Wir-Gefühl untereinander verbunden fühlen? Was ist mit den queeren Menschen, die dieses Gefühl nicht empfinden? Zum Beispiel weil sie aufgrund von rassistischen oder ableistischen Zuschreibungen in „der“ Community Ausgrenzung erfahren? Und was mit Menschen, die zwar aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer geschlechtlichen Identität zur allgemeinen Definition von „queer“ passen, aber gar kein Interesse an einer Gemeinschaft mit anderen queeren Menschen haben oder diese sogar bekämpfen, wie zum Beispiel die Vorsitzende einer rechtsextremen und explizit queerfeindlichen Partei? Sind die auch Teil „der“ Community?
Gefühle – und damit auch Wir-Gefühle – können nicht erzwungen werden. Die rechte Parteitante, die es vorzieht, ihr Wir-Gefühl in anderen, sehr unappetitlichen „Gemeinschaften“ zu suchen, soll ruhig dort bleiben und andere, freundlichere Menschen nicht behelligen.
Es ist aber völlig legitim, zu einer bestimmten Community nicht zugehören zu wollen.
Wer bestimmt den Diskurs?
Was mich zu der Frage bringt, wer eigentlich innerhalb „der“ Community Diskurse bestimmt, wer versucht, welche Deutungshoheiten und Machtstrukturen zu besetzen und wer entscheidet, wer unter welchen Bedingungen Zutritt und Sichtbarkeit erhält – und wer nicht.
Auffällig ist, dass in der eingangs erwähnten Auseinandersetzung vor allem schwule weiße Cis-Männer tonangebend sind. Nun ist es an sich noch kein Vergehen, ein schwuler weißer Cis-Mann zu sein. Problematisch wird die Sache nur bei schwulen weißen Cis-Männern mit folgenden Verhaltens- und Denkweisen:
- Solche, die die Lage und Bedürfnisse anderer Gruppen und Individuen ignorieren, bagatellisieren oder gar komplett negieren. Hierzu gehört auch Ignoranz gegenüber der eigenen privilegierten Position, die Kompromisse vor allem von denen fordert, die über weniger Ressourcen und Privilegien verfügen.
- Solche, die anderen Gruppen das Recht und die Fähigkeit absprechen, eine eigene Sichtbarkeit und Selbstwirksamkeit zu entfalten. Die Emanzipation einer echten queeren Vielfalt wird als Bedrohung, bzw. „Zersplitterung“ und „Spaltung“ geframt und findet ihren medialen Widerhall in öffentlich geäußertem Unverständnis z.B. über zu viele „Flaggen“ und „Pronomen“. Der Versuch einer eigenen Raumnahme wird als Angriff auf bisher allein genutzte Ressourcen unverzüglich sanktioniert.
- Solche, die ihre Macht- und Deutungsansprüche patriarchal, autoritär und aggressiv durchsetzen wollen. Der Werkzeugkasten ist traditionell prall gefüllt und gut gewürzt mit einer ordentlichen Portion toxischer Männlichkeit und klassischer Täter-Opfer-Umkehr, sollte jemand es wagen, dieses Verhalten zu kritisieren.
- Solche, die die Unterordnung unter einen bürgerlich-konservativen Mainstream fordern und möglichst viele cis-heteronormative Strukturen und Verhaltensweisen kopieren, anstatt sie kritisch in Frage zu stellen. Dazu gehört übrigens auch die pauschale Diskreditierung von Antifaschismus, der ja zunächst einmal nur bedeutet, dass sich Menschen gegen die menschenfeindliche Ideologie des Faschismus wehren – was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Hinzu kommt die aus bürgerlich-konservativen Kontexten übernommene fatale Gleichsetzung der politischen Rechten mit der politischen Linken, in der die Bagatellisierung der Gefahr von rechts so weit geht, dass es selbst für queere Menschen akzeptabel sein soll, ihre Kreuze bei explizit queerfeindlichen konservativen und rechten Parteien zu machen. Die größten Zusprüche erhalten solche Parteien von Männern – auch von queeren Männern.
„für alle“ heißt nicht „für alle“!
Kommerzialisierung, Pinkwashing, Rassismus, Sexismus, Ageismus, Ableismus und Bodyshaming sind nur einige der zusätzlichen Probleme, die noch viel zu wenig in queeren Kontexten reflektiert werden. Die Bereitschaft, unterschiedliche Diskriminierungsformen zusammen („intersektional“) zu denken, und zu diskutieren, inwiefern von Mehrfachdiskriminierung betroffene Gruppen bereits seit Jahrzehnten implizit ausgeschlossen werden, ist nicht besonders weit verbreitet.
So verwundert es nicht, dass es Personen und Gruppen gibt, denen das nicht genug ist, um sich einer solchen Gemengelage zugehörig zu fühlen. Und es hilft auch nicht, zu behaupten, es „dürften ja alle kommen“, denn das verlagert die Notwendigkeit zur Veränderung allein auf die Betroffenen, während sich die Etablierten von einer Selbstreflexion entbinden.
Die Versuchung liegt nahe, an dieser Stelle zu resümieren, die Spaltung habe längst stattgefunden, und zwar durch diejenigen, die auf die oben beschriebene Weise aus einer privilegierten Position heraus implizit und manchmal sogar explizit Ausschlüsse produzieren. Tatsächlich setzte dieses Resümee voraus, dass es vorher schon „die“ eine, homogene Community gegeben hat.
Echte Vielfalt schätzen und respektieren
Angesichts der Vielfalt nicht nur von Geschlecht, sexueller und romantischer Orientierung, sondern auch von Einkommen, Herkunft, körperlicher und geistiger Verfasstheit, der Vielfalt von Erfahrungen, Lebensläufen, politischen Meinungen usw. scheint ein Modell, in dem alle das gleiche Wir-Gefühl haben sollen, nicht wirklich plausibel. Die Vielfalt queerer Menschen sollte entsprechend nicht durch eine Handvoll patriarchal agierender Meinungsführer repräsentiert werden, die versuchen, Ressourcen, Strukturen und Diskurse gewaltvoll zu bestimmen und von anderen Ein- sowie Unterordnung (unter was auch immer) zu verlangen.
Wer echte Vielfalt wertschätzt, hat kein Problem damit, die Vielfalt der anderen auszuhalten, sondern begrüßt sie als Bereicherung. Wo Menschen sich auf Augenhöhe begegnen und bereit sind, die Kämpfe der „anderen“ zu verstehen, anzuerkennen und bestenfalls zu unterstützen, kann ein echtes Wir-Gefühl zwischen den einzelnen queeren Communities entstehen. Auch wenn es für die Privilegierten bedeutet, mal einen Schritt beiseite zu treten, um anderen ihren Raum, ihre Sichtbarkeit und ihre Wirksamkeit zuzugestehen.
So aber funktioniert sie, die Solidarität.
Und so klappt es vielleicht auch endlich mal mit der Abschaffung des Patriarchats.